B.2.2.2 Der Zeitgeschichtsfokus: Die Bündelung vieler Perspektiven auf ein Gegenwartsphänomen
Während eine zeitgeschichtliche Wahrnehmung zumindest in einigen Studien über die moderne New-Age-Bewegung (Schweidlenka, Gugenberger (1987, 1989); Freund (1995), Gess (1994), Baer (1995) u.a.) noch punktuell einfließt, fehlt sie im Fokus auf den Wissenschaftsbereich gänzlich. Deshalb wird die in der Irrationalismusentwicklung vor dem zweiten Weltkrieg entstandene, ganzheitliche und gestalttheoretische Strömung in den Humanwissenschaften als Basis der modernen, evolutionären Psychologie und Psychagogik in die strukturorientierte Untersuchungsperspektive eigens mit einbezogen.
Hierbei interessieren insbesondere die untersuchungsrelevanten, zeitgeistspezifischen Verquickungen zwischen Wissenschaft und spirituell-politischer Evolutionsmission, d. h. die im Hintergrund, die Verquickung zwischen Ganzheitlichkeitsbewegung, Gestaltpsychologie und Nationalsozialismus und die im Vordergrund, nämlich die Verquickung zwischen moderner amerikanischer und deutscher, evolutionärer Psychologie und den Projektfeldern der New-Age-Weltdiener-Mission und des Scientology-Unternehmens, wobei Scientology als Initialprojekt der New-Era-Mission verstanden wird.
Hierbei sollen erstmals auch diejenigen evolutionär-psychologischen und -spirituellen Initial- und Expansionsprojekte strukturorientiert untersucht werden, die mittels ausgewählter Wissenschaftsanleihen nicht nur auf Multiplikatorengewinnung im Kontext akademischer Foren und auf eine Einflussgewinnung im Hochschulbereich selbst zielten, sondern über ihre Präsenz im akademischen Feld auch auf Seriositätsgewinn.
Hier verweist die Tradierungsperspektive insbesondere auf Wissenschaftsvertreter, die den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch einbeziehen / einbezogen oder miterlebten und achtet darauf, wie sie diesen reflektierten. Dies gilt insbesondere für Schulenbegründer, die sich mit dem Nationalsozialismus identifizierten, wobei interessiert, ob sie ihr Involviertsein agogisch reflektieren konnten oder es verdrängten und darüber eine strukturell tradierende Psychagogik entwickelten.
Der Wissenschaftsanschluss der Studie greift insgesamt überwiegend auf Schulen- und Wissenschaftsvertreter zurück, die den Nationalsozialismus in seiner destruktiven Totalität erkannten, die ihn vom Fluchtpunkt ihres Exils aus wissenschaftlich zu reflektieren begannen oder die sich in ihren Studien wissenschaftlich auf den von der Nazidiktatur verursachten Zivilisations- und Wertebruch beziehen und damit einen zeitgeschichtlichen Hintergrundbezug haben.
Dem Anspruch einer konkret historischen Perspektivenerschließung wird in dieser Studie entsprochen, indem die amerikanische Ausrichtung evolutionär-paradigmatischer Bewusstseins- und Identitätsformung während der ideologischen Ost-West-Blockbildung und des "kalten Krieges" von der europäischen Ausrichtung unterschieden und auf den gemeinsamen, älteren Quellenfundus beider Richtungen im Grundbestandsansatz eingegangen wird.
Um diese phänomenologische Differenzierungsperspektive auf den Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen der Herausbildung der irrationalistischen Ideologie- und Wissenschaftsentwicklung und der politökonomischen Gesellschafts- und rationalistischen Wissenschaftsentwicklung zu gründen, wird am Untersuchungsfundus und Forschungsanschluss der Frankfurter Schule angeknüpft (Adorno, Horkheimer, Fromm, Habermas). Diese Wissenschaftstradition behält den Zivilisationsbruch durch Faschismus und Nationalsozialismus ganz besonders im Blick.
Darüber konnte das spirituell-politische sowie das wissenschaftliche Irrationalismusphänomen mit seinem Gestalttheorie-, Ganzheitlichkeits- und Evolutionsbezug tiefgründiger erfasst und als Reaktion auf die wissenschaftliche Rationalismusentwicklung, auf die damit verbundene technologische Revolution und auf die industrielle Gesellschaftsentwicklungsdynamik wahrgenommen werden. Dies lässt eine ideologiekritische Perspektive auf die Rolle der evolutionär-wissenschaftlichen, -spirituellen und -politischen Irrationalismusentwicklung für den industriellen Revolutionierungs- und Gesellschaftsentwicklungsprozess und das Phänomen des sich stets von neuem bildenden "evolutionären Abwehrmodus" als gesellschaftssystemisches Strukturphänomen beachten.
Darüber kann die von Fromm (1977) und Perls (1942 / 1989) begonnene Bezugnahme auf individuelle und kollektive, narzisstische Abwehrphänomene im Einfluss von Kapitalismus und Faschismus fortgesetzt werden.
Denn die Studie sichtet diesen "evolutionären Abwehrmodus" auch in den modernen Psychomarktprojekten und Evolutionsmissionen und dringt hierfür von der gesellschaftssystemischen bis zur individuellen und psychologischen Ebene vor.
Der hierzu entwickelte Ansatz bildet eine strukturorientierte und zugleich konkret historische Perspektive auf den evolutionär-psychagogischen Wissenschaftskomplex heraus. Er behält die Etablierung ganzheitlich völkischer Gesinnungs- und Ordnungskonstrukte in diesem über einen gesellschaftssystemischen Hintergrundbezug im Auge und achtet im Vordergrundbezug darauf, ob bei den untersuchten, modernen evolutionären Psychologieansätzen und deren projektspezifischer Umsetzung hintergrundanaloge Strukturen auftauchen.
Hierzu wird gefragt, ob es erneut zeitgeist- und gesellschaftskonforme Strukturen gibt, ob diese zugleich auf eine evolutionäre und paradigmenwechselorientierte Absolutheit bzw. Totalität zielen und ob die daraus resultierenden Ansprüche erneut identifikatorisch vereinnahmend aufbereitet und hierbei in einer irrationalistisch-wissenschaftlichen Ganzheitlichkeitstradition angelegt sind.
Ist letzteres der Fall, fordert dies dazu auf, nach evolutionär-wissenschaftlich ausformulierten, metatheoretischen Ordnungsbezugnahmen zu fragen. Hierbei interessiert, ob diese erneut zu gestalttheoretisch höherwertigen Entwicklungsbezugnahmen auf Mensch und Zivilisationsentwicklung ausgestaltet werden und im zugehörigen evolutionär-psychologischen Bewegungskontext mehr oder weniger deutlich auf einen politisch gesellschaftlichen Paradigmenwechsel zielen.
Hierzu muss - in Orientierung an der Untersuchungsfrage - bedacht werden, dass breitere "Irrationalismuswellen" in der Gesellschaft stets widerstreitende Interessenströmungen hinsichtlich anstehender Fortschrittsentwicklungen zum Ausdruck bringen, die janusköpfig - d. h. über spirituelle, philosophische, mythologische oder ideologisch-utopische Verklärungen von Zukunft und Strukturveränderung auf der einen Seite und von Vergangenheit und alten Ordnungen auf der anderen Seite - um Durchsetzung ringen.
Der Einfluss dieses janusköpfigen Phänomens auf die Wissenschaftsentwicklung in Psychologie und Pädagogik wird dabei auch als Teil eines politischen Durchsetzungsprozesses in einer sich strukturell stark verändernden Gesellschaftssituation wahrnehmbar.
Dies fordert dazu auf, nachzuforschen, ob dieses janusköpfige Phänomen auch im modernen Spektrum vorhanden ist. Hierfür wird nach dem politischen Standort von Psychologie und Psychagogik gefragt und dieser angemessen erörtert.
Hierbei interessiert auch die Frage, ob der evolutionär ausgerichteten Irrationalismusströmung in den Humanwissenschaften im Kontext umstrittener Technologieentwicklungen die Rolle zukommt, potenziell politisch wirksam werdende Verarbeitungs- und Bewusstseinsprozesse und die damit verbundenen Entscheidungen und Verhaltensweisen in der Gesellschaft zu bahnen und zu legitimieren, wobei das entstehende Gefahrenpotenzial entheikelt wird, da es wissenschaftlich eingebettet und so kontrollierbar erscheint.
Mit dieser Fragestellung kann man auch auf die religiösen Rezeptionen der Evolutionsideologie zielen, wobei hier auch nachgefragt werden kann, ob eine ähnliche Wirkung den modernen spirituellen Lehren aus den gesichteten modernen Evolutionsmissionen auf dem Psychomarkt anhaftet.