Teil I: Einleitung - Das transgenerationelle Weiterwirken der Folgen von NS, Shoa, Verfolgung, „Ausmerze“ und Krieg in den Familien für die Gestalttherapie zugänglich machen

Warum haben diese Folgen bis heute Bedeutung – und dies in so breitem Ausmaß?

Unsere (Ur-/Groß-)Mütter, (Ur-/Groß-)Väter und deren Verwandte waren alle auf irgendeine Weise in die Herrschaft und Gewalt der Nazi-Diktatur verstrickt, in deren Ideologie, völkisch-rassistischen Identifikations- und Zuschreibungssysteme, narzisstischen Selbstüberhöhungen und Abwertungen aller von der NS-Doktrin Abweichenden sowie in die damit verbundenen nach innen wie außen wirkenden Spaltungsprozesse und deren existenziellen Folgen. Die Mehrzahl profitierte davon, wurde so zu Mitakteuren oder Zeugen oder zu Opfern von Verfolgung und Vernichtung, Shoa und NS-Kriegsverbrechen. 

So wurden sie alle zu einem Teil dieses umfassenden Zivilisationsbruchs, der Vertrauen und Mitmenschlichkeit für lange Zeit zerstörte. Und da die Menschen über das, was sie nicht verarbeiten und integrieren konnten, meist schwiegen - weil sie das Erlittene und/ oder all das, was sie selbst mit verursacht hatten, verdrängten oder fragmentiert ausagierten und das Nicht-Bewältigbare aus dem „psychische Erbe“ der NS-Zeit abspalteten und auf ihre Kinder oder andere Nahstehende projizierten, blieb es auch für die in ihrem Feld Heranwachsenden unbewusst.

Für sie ragte das Verborgen-Gehaltene oder Verdrängte von erster Stunde an in ihre Entwicklung. Dies machte es ihnen unmöglich, ihre (Ur-/ Groß-)Eltern tiefergehend zu verstehen, eine darauf basierende Bindung zu ihnen aufzubauen und das in der Familie problematisch bzw. toxisch Erlebte ins richtige Verhältnis zu sich selbst zu setzen. Dieses Phänomen zeigte sich auf Opfer- und Täterseite gleichermaßen, obwohl das Schweigen und Abspalten, Verdrängen jeweils sehr unter­schiedl­iche Gründe hatte. Dieser Hintergrund-Verlust war für alle Nachgeborenen schwer zu erfassen und folgenreich - hier wie dort.

 

Alltägliches Weiterwirken- Umfassende Desorientierung

Der aus Beschweigen entstandene „Hintergrundverlust“ verzerrte und fragmentierte nicht nur die Familienerzählungen und biografischen Realitäten der (Ur-/ Groß-)Elterngeneration. Er transportierte über seine alltägliche Einbettung auch einen Gültigkeitsanspruch. Dieser wurde stets dann dünnwandig, wenn das Verschwiegene über kryptische Andeutungen hindurch schimmerte oder emotionale Kälte, Härte oder ein Wutausbruch die Antwort auf konkretes Nachfragen war. Dies schuf Angst und Distanz, Unsicherheit und Desorientierung. 

Das Verschwiegene deutete sich indirekt und situativ nicht nachvollziehbar an und wirkte über elterliche Empathie-Verweigerung oder beklemmende Atmosphären, viel zu große Erwartungen und unerwartet glänzende Augen, verweigerte Blickkontakte, fehlende Nähe, Berührungen, unberechenbar ausbrechende Gefühle auf die Entwicklung der Nachkommen ein.

Es wurde erst einmal auf sich selbst bezogen oder nährte später Fragen und Phantasien über die Ursachen „dahinter“ und hier auch über die wahren Rollen der (Ur-/Groß-)Eltern in der Nazi-Diktatur und Shoa.

Beides ließ weder die eigenen Beziehungserfahrungen mit den (Ur-/ Groß-)Eltern noch die wiederkehrenden Atmosphären, Kontakt-/ Verhaltensmuster (Heimannsberg 1992, 11 ff, 22 ff) in der Familie konkreten elterlichen Erfahrungen zuordnen noch vor diesem Hintergrund verstehen, von sich weg-rücken und so relativiert ins eigene Leben integrieren. Die alltäglich weiterwirkenden Erfahrungen aus NS und Shoa wirkten quasi wie über eine aus dem Bewusstsein gedrängte "zweite Realität" bzw. einen „Zeittunnel“ (Eck­staedt (1992) 112, Kestenberg 1995 - beide Psychoanalyse) in den Nachgeborenen weiter, was in deren Psyche, Kontakterleben, Zutrauen zu sich und anderen und in ihrem In-der-Welt-Sein bis heute wirksame Folgen hinterließ.

Eine eigene Orientierung kann erst durch den Einbezug des realen Hintergrunds mit all seinen Fakten (historisch regionale Fakten- und Familienereignis-Recherche) gefunden und diese Wirkkette nur durch eine persönliche Auseinandersetzung mit diesen abgemildert und für sich selbst und die nachfolgenden Generationen unterbrochen werden.