Fakten - Teiljüdische Familien

Das Wannseekonferenz-Protokoll

und seine Bedeutung für die transgenerationelle Forschung und die persönliche Familienrecherche

Eine Zusammenfassung © von Karin Daecke

Ohne nähere Kenntnisse der Nürnberger Gesetze und der Beschlüsse der Wannseekonferenz https://de.wikipedia.org/wiki/Wannseekonferenz in Berlin am 20.01.1942, die über ein zufällig gefundenes Protokoll nachweisbar wurden, würden die lebensgeschichtlichen Fakten und die sich daraus ergebenden Folgen für Familien, in denen beide Seiten, d.h. ehemals verfolgte Überlebende und Täter/ Mitläufer der NS-Diktatur miteinander lebten, bis heute nicht fassbar bzw. nachvollziehbar werden.

Exkurs - Zum Protokoll und seinem zufälligen Auffinden – Quelle LEMO: „Für den 20. Januar 1942 lud der von der NS-Führung mit der "Endlösung der Judenfrage" beauftragte Reinhard Heydrich 13 Staatssekretäre verschiedener Ministerien sowie hohe Partei- und SS-Funktionäre zu einer "Besprechung mit anschließendem Frühstück" in die Berliner Villa "Am Großen Wannsee 56-58" ein. Thema der Konferenz war die Koordinierung der Zusammenarbeit aller an der "Endlösung" beteiligten Dienststellen. Das Protokoll der Besprechung führte Adolf Eichmann, zuständig für die zentrale Organisation der Deportationen.

Durch dieses Protokoll sind die wesentlichen Ziele und Ergebnisse der Besprechung überliefert: die Unterrichtung der Teilnehmer über den Plan zum Mord an den europäischen Juden und die ausdrückliche Betonung der Federführung des Reichsführers der Schutzstaffel (SS), Heinrich Himmler und Reinhard Heydrichs.

Vorrangiges Ziel der Zusammenkunft war die Einbindung der vertretenen Institutionen in die Planung und technisch-organisatorische Umsetzung des Völkermords. Dieser war zum Zeitpunkt der Konferenz bereits in vollem Gang. Einsatzgruppen hatten bis Januar 1942 in Polen und in der Sowjetunion schon über 500.000 Juden erschossen oder in Gaswagen qualvoll vergast. Nun aber setzte der NS-Staat alle Mittel ein, um den Völkermord europaweit zu koordinieren und systematisch durchzuführen“ LEbendiges Museum Online: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/wannsee-konferenz.html.

Um sich mit den transgenerationellen Weiterwirkfolgen in den Familien auseinandersetzen zu können, die wegen des „Jüdisch-Seins“ eines oder mehrerer ihrer Mitglieder Verfolgung und Ermordung und in Folge davon schweren Traumatisierungen ausgesetzt waren, muss man die gesellschaftlichen Fakten mit ihren zeitlichen Wirkungsfeldern sehr differenziert mitbeachten.

Denn wer überhaupt als Jude galt und deswegen verfolgt wurde, kann erst auf einer fakten­basierten Kenntnisgrundlage nachvollzogen werden. Diese Fakten wirk(t)en sich – auch wenn man nichts darüber weiß – auch noch bei den Nachkommen aus, denn damit waren weitrei­chende Folgen für deren (Ur-/Groß-)Eltern verbunden, welche die Familienatmosphäre und die Beziehungen innerhalb der Familien mitbestimmt hatten.

Zu den ehemals verfolgten Überlebenden – und deren Nachkommen – gehör(t)en nach dieser Kenntnisgrundlage nicht nur Menschen, die für sich selbst eine wie auch immer geprägte jüdische Identität hatten und diese als Shoa-Überlebende in ihrer kulturell-religiösen Kulturzugehörigkeit weiterlebten – darin verwurzelt geblieben waren. Zu dieser Gruppe kann man sich aber auch ohne die alltägliche Verlebendigung dieser Kultur zugehörig fühlen – allein über den in der Generation davor kollektiv erlittenen Schmerz, das miteinander geteilte Elend, die hier miteinander erfahrene Entmenschlichung, Demütigung unter der Nazi-Herrschaft (vgl. Peter Pogany-Wnendt, Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung (2012-1/28): Jüdisch sein zu müssen, ohne es wirklich sein zu können – Ein Identitätsdilemma im Lichte des Holocaust). Dies betrifft z.B. die Nachkommen mit eher nicht-religiöser Lebenskultur – allein über die Teilhabe an den von den Vorfahren erlittenen Traumatisierungen.

Zu den Überlebenden der Shoa gehörten auch Menschen, die schon zur Nazizeit für sich selbst gar keine jüdische Identität mehr hatten und sie deshalb auch nicht mit anderen teilten. Diese Zugehörigkeit entstand allein durch die NS-Ideologie und die wirren Rasse-Definitionen der Nazis per Zuschreibung. Gemäß diesen Zuschreibungen wurden unendlich viele Menschen als jüdisch angesehen und mit der Zeit ebenso verfolgt wie diejenigen, die für sich selbst eine jüdische Identität hatten und diese mit anderen teilten.

Eine gesetzliche Legitimierung hierzu gab es nicht – lediglich „geheime Verordnungen“ (1938), die dann ab 1942 durch die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz auch offiziell Geltung bekamen und ab da im gesamten „Deutschen Reich“ organisiert und durchgesetzt wurden. Die einzige Gesetzes-Grundlage hierfür waren bis zu diesem Zeitpunkt die „Nürnberger Gesetze“ gewesen, auch unter den Bezeichnungen „Arier-“ oder „Rassegesetze“ bekannt. Diese waren am 15. September 1935 im Reichstag beschlossen und erst am 20. September 1945 wieder aufgehoben worden. Sie umfassten das sogenannte „Blutschutzgesetz“, das die Bevölkerung antisemitisch aufspaltende Reichsbürgergesetz und das Reichsflaggengesetz.

Wer als „jüdisch“ galt und deshalb verfolgt wurde und ab wann dies in welchem Ausmaß als legitim galt und zu geschehen hatte, gestaltete sich für diese Gruppe von rassisch Verfolgten langsam immer bedrohlicher und völlig willkürlich. Dies betraf insbesondere die Existenzbedingungen der sogenannten „assimilierten Juden“, die unter dem Reformeinfluss der Aufklärung christlich getauft waren oder ohne jegliche Glaubenszugehörigkeit lebten.

Hier wurde dann nochmals unterschieden: So galten Familien mit einem jüdischen Elternteil für eine gewisse Zeit als „privilegiert“, wenn sie mit einem „Nicht-Juden“ bzw. „arischen“ - auch „deutschblütig“ genannten - Partner verheiratet waren und mit ihm Kinder hatten.

Der Anpassungsdruck wirkte hier besonders heftig, da für die Familien mit nur einem jüdischen Ehepartner dann nochmals zweierlei Existenzrecht galt, je nachdem ob man – weil nur die Mutter jüdisch war - „privilegierten“ oder – weil der Vater jüdisch war - „nicht-privilegierten Mischehen“ zugerechnet wurde. Dabei zielten die Nazis ganz besonders auf die Weitergabe des Jüdisch-Seins auf väterlicher- oder männlicher Seite, während Jüdisch-Sein nach jüdischen Religionsgesetz bis heute in Deutschland nur mütterlicherseits weitergegeben werden kann (https://www.zeit.de/kultur/2021-09/judentum-vaterjuden-identitaet-josef-schuster-meron-mendel-streitgespraech?wt_zmc=sm.ext.zonaudev.mail.ref.zeitde.share.link.x.).

Was 1942 zu diesem „zweierlei Existenzrecht“ im Wannsee-Protokoll festgehalten und behördlich organisiert durchgesetzt wurde, war bereits auf der Grundlage der Nürnberger Gesetze am 28.12.1938 mit einer „geheimen Richtlinienverordnung“ vorbereitet worden.

Exkurs - Die Situation ab 1938 in Familien mit nur einem jüdischen Elternteil. Schon ab diesem Zeitpunkt wurde diese Unterscheidung zwischen „privilegierten“ und „nicht-privilegierten Mischehen“ üblich, wenn auch vorerst noch nicht im amtlichen Sprachgebrauch. Der Umgang mit dieser Unterscheidung wurde nie abschließend gesetzlich geregelt.

Dies war auch obsolet, denn nachdem die „Zwangsarisierung“ des gesamten jüdischen Vermögens bereits durch die Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens legitimiert worden war, teilte Göring schon ca. drei Wochen später dem Reichsinnenministerium und dem Stellvertreterstab Hitlers eine klare „Willensmeinung des Führers“ zum Umgang mit teil-jüdischen Ehepaaren und ihren Familien mit – und zwar mit der Aufforderung, diese „bis zu den untersten Staatsstellen“ weiterzuleiten.

Diese „geheimen Richtlinien“ regelten nicht nur bereits den „Mieterschutz für Juden“ sondern sahen bereits die mögliche Einrichtung von „Judenhäusern“ vor, sprachen einen „Judenbann für Badeanstalten“ aus und ein „Benutzungsverbot von Schlaf- und Speisewagen für Juden“, wobei die Ehepartner in diesen sogenannten „Mischehen“ in all diese geplanten Eingriffe bereits grundsätzlich mitbetroffen waren.

Im 2. Teil dieser „geheimen Richtlinien“ wurden dann jedoch mehrere Ausnahme-Regelungen bzw. „Privilegien“ aufgeführt, was als taktisches Zugeständnis an weitgehend assimilierte deutsche Juden angesehen wurde. Ziel diese Taktik war es, von vorneherein mögliche Solidaritätsbekundungen nicht- jüdischer Verwandter zu verhindern. Mit diesen rechnete man auch noch auf der Wannsee-Konferenz. So wurden schon 1938 für „Mischehen mit Kindern (Mischlinge 1. Grades)“ und „deutschblütigem“ Ehemann angeordnet, dass die Familie nicht ins „Judenhaus“ ziehen musste, wobei das Vermögen der jüdischen Mutter auf den Ehemann oder die Kinder übertragen werden durfte. Hier wurde auch verordnet, dass diesen Familien „vorläufig“ eine „Unterbringung in jüdischen Vierteln“ erspart blieb, da „die Kinder später im Arbeitsdienst und in der Wehrmacht dienen müssen und nicht der jüdischen Agitation ausgesetzt werden sollen“. Auch hier durfte das Vermögen den Kindern übertragen werden.

Als vier Monate später (30.04.1939) dann das Gesetz über Mietverhältnisse mit Judendie Zusammenlegung jüdischer Familien in sog. «Judenhäusern» vorbereitet und der Räumungsschutz für jüdische Mieter aufgehoben wurde, war klar, was der Hinweis „vorläufig“ bedeutet hatte.

Schon sechs Monate später – am 01. 09. 1939 – überfiel Nazi-Deutschland Polen und der 2. Weltkriegs begann und mit ihm in der Gesellschaft das Abstumpfen gegenüber Unrecht.

Als sich dann 1942 abzeichnete, dass die Invasionskriegsstrategien zu scheitern drohten, rückte die Vernichtung allen jüdischen Lebens verstärkt ins Ziel der NS-Politik (siehe unter „Fakten und Gesellschaftsentwicklung: Übersichtsbeitrag). Dies betraf auch die Mitglieder der bislang privilegiert behandelten „Mischlingsfamilien“.

Denn ab Herbst 1944 wurden 10.000 – 20.000 sogenannte „Halbjuden“ und Personen, die mit Juden verheiratet waren, in Spezialabteilungen zwangsrekrutiert oder im Zuge der sogenannten Mischlingsaktion“ vom 19. September 1944 verhaftet und in OT-Lager verschleppt. (Quelle: Wolf Gruner: Jewish Forced Labor Under the Nazis. Economic Needs and Racial Aims, 1938– 1944. Institute of Contemporary History, Munich and Berlin. Published in association with the United States Holocaust Memorial Museum. Cambridge University Press, New York 2006 - ISBN 978-0-521-83875-7).

Dass sich die so von 1938 an beständig weiter verschlimmernde existenzielle Bedrohung in all den Familien, in denen beide Seiten zusammenlebten, als beständige Gefahr tief in ihre Psyche einschrieb, der man nur zeitweise durch die Illusion entkam, dass man schon sicher sei, solange man sich nur an die immer restriktiver werdenden Bestimmungen hielt, sich diesen unterwarf und so nach und nach quasi „unsichtbar wurde“, ist nachvollziehbar. Damit wuchs sich der Assimilierungsdruck ins Groteske aus. Etliche dieser Familien wanderten ebenfalls aus.

So komplex diese ganze NS-Zuschreibungsgeschichte mit ihren von außen diktierten, brüchigen Identitätsentwicklungen ist, so kompliziert ist es auch für die Nachkommen der Holocaust-Überlebenden, nach ihren jüdischen Wurzeln zu suchen oder der Verstrickung ihrer Großeltern in die NS-Verbrechen nachzugehen und hierfür ihre reale Familiengeschichte weiter zu erforschen. Wenn sie hierfür nur zu den eben erwähnten relevanten Jahreszahlen auffallend passende Familienereignisse oder familiengeschichtliche Migrationshinweise haben und ansonsten nichts als kryptische Andeutungen, gibt es - was die wirklichen Zugehörigkeiten und Verstrickungen in der Familie betrifft – meist große Verwirrung und oftmals auch Fehleinschätzungen. Denn meist ist es viel komplizierter und vielschichtiger, als man aus dem Vorhandenen schließen kann.

Auch vernichteten viele Überlebende der NS-Verfolgung aus der ersten Generation nach 45 ihre Unterlagen aus dem NS und redeten niemals über ihre Geschichte oder von ihrem realen oder von den Nazis zugeschriebenen „Jüdisch-Sein“. Denn sie wollten ihre Kinder schützen. Niemand von ihnen sollte jemals wieder verfolgt werden, weil er/ sie jüdisch seien.

Dies ist auch angesichts der vielen einstigen Verfolger, die es nach 45 schon bald wieder in hohe Ämter – ja bis in die Reihen der Verfassungsschützer oder sogar bis zum Berater an der Seite Adenauers wie z.B. H. Globke - geschafft hatten, durchaus nachvollziehbar.

Exkurs: Hierzu muss man wissen, dass das verhängnisvolle am 18. 10. 1935 erlassene „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ wie auch das sogenannte „Ehegesundheitsgesetz“ just aus der Feder jenes H. Globke stammte, der später Staatsekretär und Berater Adenauers wurde. W. Stuckart, der ebenfalls daran mitgewirkt hatte, war zuletzt Ruhebeamter der Bundesrepublik nach der Einstufung B3 als Ministerialrat.

Nach dem sogenannten Ehegesundheitsgesetz wurde von Brautleuten ein Ehetauglichkeitszeugnis verlangt, um Menschen mit bestimmten Krankheiten von der Ehe auszuschließen. Erwünschte Ehen wurden dagegen in jeder Weise gefördert. Kinderreiche Mütter aus solchen Ehen erhielten das „Mutterkreuz“, während absichtliche Kinderlosigkeit als „völkischer Verrat“ gebrandmarkt wurde, was auch sogenannte „trauscheinlose „Kameradschaftsehen“ mitbetraf, da diese hierzu angeblich beitrugen. So wurden „gewünschte Ehen“ durch ein „Ehestandsdarlehen“ bis zu 1.000 Reichsmark belohnt.

Eheschließungen zwischen „Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ waren genauso verboten wie außereheliche geschlechtliche Beziehungen. Deren Definition dehnte Globke später immer weiter aus. (http://www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de/2012/05/28/nationalsozialisten-sahen-im-eherecht-einen-wichtigen-hebel-ihre-ideen-von-rassereinheit-und-der-uberlegenheit-der-arischen-rasse-durchzusetzen/ )

Doch nicht nur das Geheim-Halten des Jüdisch-Seins aus nachvollziehbaren Schutzgründen und die genannten wirren NS-Zuschreibungen, auch die lange Geschichte der reformbedingten Assimilierungsprozesse in „jüdischen Familien“ sorgen bis heute bei vielen Nachkommen für Identitätsverwirrung und Ungewissheit darüber, wer in der Familie nun eigentlich „jüdisch“ war/ ist und wer nicht.

Exkurs: Zur Assimilierungsgeschichte in einstmals jüdischen Familien Um diese Assimilierungsprozesse zu verstehen, muss man wissen, dass es zahlreiche Reformen gab, welche die Assimilierung von jüdischen Menschen befeuerte.

So bewirkten z.B. diejenigen von Kaiser Josephs II. (1780-1790) neben vielen anderen Neuerungen, dass die jüdischen Gettos aufgehoben wurden. Im Zuge dessen soll er aber die Juden ab 1782 gezwungen haben, ihre bisherigen Namen abzulegen und katholisch zu heiraten. Dafür ermöglichte er es ihnen, beliebige Berufe zu ergreifen und zu studieren, wenn sie im Gegenzug dazu bereit waren, ihre Namen abzugeben und bürgerliche Namen anzunehmen. Und solange der Vorrang der Katholischen Kirche bestehen blieb war Ihnen – wie anderen diskriminierten Minderheiten auch - erlaubt, ihre Religion weiterhin frei auszuüben. Dies war ihnen möglich, die Eheschließung in der Hand der katholischen Kirche zu lassen, was zu Spaltungen führen konnte. In den deutschsprachigen Staaten kam die rechtliche Gleichstellung der Juden in vielen Einzelschritten von 1797 bis 1918 voran. Doch wurden die gewährten Zugeständnisse häufig wieder eingeschränkt und – ähnlich wie im napoleonischen Kontext - vom Erfolg der mit ihnen betriebenen „Erziehungspolitik“ abhängig gemacht. Nach dem Reformbestreben Josephs II. sollten die Juden darüber nützlicher und für den Staat brauchbarer gemacht werden (ebenda). Durch Erziehung und Assimilation – die als Vorbedingung für rechtliche Zugeständnisse an sie verlangt wurde - sollte das Schädliche, das er mit ihrer Diskriminierung verbunden sah, außer Kraft gesetzt werden.

Diesem Grundgedanken folgten auch die Gleichstellung der Juden im napoleonischen Herrschaftskontext und von 1800 - 1812 fast alle deutschen Staaten. So erließ auch Friedrich Wilhelm III. im Rahmen der preußischen Staatsreformen1812 ein Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden. Er gab den Juden das Staats- und Gemeindebürgerrecht, Wahlrecht, die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit er und erlaubte ihnen auch akademische Berufe. Vom gehobenen Staatsdienst schloss es sie allerdings weiterhin aus. Juden mussten in Preußen auch am christlich-konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen, um an Universitäten studieren zu dürfen (ebenda). Auf dem Wiener Kongress (1814) versuchte Wilhelm von Humboldt vergebens, das preußische Judenedikt von 1812 auf den Deutschen Bund (1815-1866) auszudehnen.

Im nächsten Jahrzehnt widerriefen viele Staaten des Deutschen Bundes wieder einige ihrer Zugeständnisse. 1822 verbot der König den Juden in Preußen wieder, Lehrberufe auszuüben und entließ sie aus allen Staatsdiensten. Dies stürzte besonders die assimilierten, gebildeten Juden in Arbeitslosigkeit. Bis 1850blieben die preußischen Berufsverbote in Kraft, so dass Juden weiterhin nur Berufe wie Trödelhandel, Hausieren, Pfandleihe, Vieh- oder Kornhandel blieben (ebenda). Dann wurde ihnen Kleingewerbe erlaubt: viele Juden wurden nun Brillen- und Uhrmacher, Juweliere, Verkäufer auf Messen, Leder- und Textilhändler (ebenda).

Ab 1830 hatten die liberalen Demokraten eine „bürgerliche Verbesserung“ für Juden und Bauern gefordert, um die feudale Stände-Gesellschaft abzuschaffen. Und viele gebildete und bereits assimilierte Judenließen sich daraufhin taufen, schon um sich den Zugang zu Bildungschancen und gesichertem Einkommen zu erhalten. Etwa 30.000 von insgesamt 590.000 deutschsprachigen Juden wählten bis 1900 diesen Weg (ebenda). Im Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden in Österreich und Ungarn verankert.

Diese durch Assimilation entstandene Unkenntnis über die jüdischen Wurzeln in der Familie musste schon bei den NS-Verfolgten selbst Verwirrung ausgelöst haben, denn sie galten nun wegen der NS-Zuschreibungen plötzlich als „jüdisch“ oder befanden sich ab 1938 plötzlich in sogenannten „Mischlingsehen/ -Familien“ oder sie galten plötzlich als „Mischlinge 1. und 2. Grades“. Und ab dem 20.01.1942 reichte es nach den Beschlüssen der Wannseekonferenz auch schon aus, „jüdisch“ auszusehen, wie dies im Wannsee-Protokoll (ebenda S. 12, 14) nachgelesen werden kann.

Ziel war hier die Vernichtung von allem Jüdischen. Denn von da an blieben auch alle sogenannten „Mischlinge (1. oder 2. Grades)“ bzw. Kinder aus sogenannten „Mischlingsfamilien“ oder „Bastardfamilien“ nur dann am Leben bzw. vor einem gemeinsamen Abtransport zusam­men mit ihrem „Mischlingselternteil“ ins Getto / KZ bewahrt, wenn den örtlichen Behörden im Nachvollzug von Heydrichs Wannsee-Plänen für die männlichen Nachkommen eine „freiwillige Sterilisation“ vorlag und alle Familienmitglieder unter Beweis stellen konnten, dass sie „deutschblütig“ fühlten, dachten und sich auch so verhielten (vgl. Wannsee-Protokoll).

Insgesamt wurden hier – wie vorne schon erwähnt - die männlichen Familienmitglieder von Anfang an mehr verfolgt als die weiblichen. die Familien mit jüdischem Vater/ Ehepartner früher selektiert und aus ihren Wohnungen vertrieben, in Judenhäusern zusammengepfercht und zur Zwangsarbeit verurteilt als die anderen. Hatte nur die Mutter jüdische Wurzeln, war die Familie zunächst zwar geschützter bzw. „privilegierter“, allerdings nur, solange ihr Partner sich nicht scheiden ließ. Um dem entgegen zu wirken, wurden die „deutschblütigen Ehepartner“ schon bald dazu angehalten, sich von ihnen besser scheiden zu lassen.

Damit wuchs die Fremdbestimmung in diesen Familien - für alle ihre Mitglieder -beständig und willkürlich. Und auch in den sogenannten „privilegierten Familien“ nahmen für alle Familienangehörigen die bestehenden Gefahren für Leib und Leben zu. Auch hier ging die errungene soziale Anerkennung, der soziale Status verloren und mehr und mehr war man auch hier sozialer Ächtung, Verfolgung, KZ-Abtransport, Vernichtung preisgegeben. In welchem Ausmaß diese Entwicklung drohte, darüber entschied insgesamt ein Fächer von Bestimmungen auf der Grundlage der genannten willkürlichen Zuschreibungen. Dieser Fächer spannte sich auf zwischen „Jude“, „Halb-Jude“, „Viertel-Jude“ etc. „jüdisch aussehend“ und zwischen „jüdisches“ versus "deutschblütiges“ Verhalten, was einen extremen inner- und außerfamiliären Assimilierungs- und Geheimhaltungsdruck bewirkte.

Mit diesen existenziell wirksam werdenden Zuschreibungen gingen sowohl intra- als auch interpersonale Spaltungen einher, mit mitunter generalisierenden Bewertungen und Ambivalenzen großen Ausmaßes, in deren Folge tiefe, so unüberwindbar wie unnachvollziehbar erscheinende Gräben in den Familien wuchsen. Den Nachkommen dieser Familien fehlt oft ein ganzer Teil der Familie, den sie im Familienfeld niemals oder nur marginal kennenlernen konnten.

Damit erging es ihnen ähnlich wie vielen Child-Survivors und Nachkommen der KZ-Überlebenden, allerdings wurden ihnen große Teile ihrer Familie für immer entrissen. Denn ihre Familienmitglieder lebten nicht mehr. Sie wurden ermordet, bevor sie diese jemals kennen lernen konnten.

Von in „Mischehen“ oder versteckt im „Reich“ überlebenden Juden entkamen 10.000 bis 15.000 dem Holocaust. (Quelle Wikipedia)

Welche Folgen diese lebensgeschichtlich gegebenen Fakten für die Familienmitglieder in den hiervon jeweils sehr unterschiedlich betroffenen Familien hatten und anhand welcher Phänomene deren Weiterwirken bei ihren Nachkommen deutlich wird, ist bislang nur marginal erforscht (siehe mehr unter I. A.3. im Curriculum).

 

Mögliche Gründe für das Forschungsdefizit hinsichtlich der Folgen und Weiterwirk­phänomene in Familien mit nur einem jüdischen Elternteil

Es wäre durchaus nachvollziehbar, wenn all diese NS-Zuschreibungen mitsamt ihrer existenz-entscheidend wirkenden Nazisprache bei den Forschenden Abscheu erweckt hätten – ein­schließlich der darin geltenden Zuschreibungslogik, wer zuletzt als jüdisch galt und in wie vielen Anteilen und wer aus den so kategorisierten Familien Privilegien erhalten hat und wem diese dann ab wann wieder entzogen worden sind. Diesen Vorgaben in der Forschung zu folgen, könnte durchaus ein Hindernis darstellen.

Als die Folgen von NS und Shoa erstmals behandelt und im Rahmen von Gutachten für Ent­schädigungszahlungen dokumentiert wurden und auf dieser Basis dann auch erste Forsch­ungsgrundlagen erarbeitet wurden, standen zudem zunächst die Schäden durch die erlittenen Traumata der KZ-Überlebenden und die Ermordung der jüdischen Familienan­gehörigen insgesamt im Vordergrund.

Wer dann wann und warum in den Vernichtungszugriff der Nazis geraten war und ob auf väterlicher- oder auf mütterlicher Seite eine jüdische Familienwurzel mit oder ohne Privilegien-Zugeständnissen vorlag, schien hierbei - so meine These – zunächst durchaus vernachlässigbar erschienen sein. Denn diese zugebilligten „Privilegien“ galten ja spätestens ab dem Zeitpunkt nicht mehr, ab dem sich das Scheitern des Kriegs abzuzeichnen begann.

Denn ab diesem Zeitpunkt wurden diese Familienangehörigen dann ja trotzdem zur Zwangsarbeit verschleppt, wie die detaillierten Berichte über die Lager der NS-Organisation Todt https://de.wikipedia.org/wiki/Organisation_Todt offenbaren. Und zumindest die männlichen Nachkommen aus diesen sogenannten „Mischlingsfamilien“ landeten nicht selten zuletzt doch noch im KZ, wie vor ihnen schon die jüdischen Väter aus den 1938 noch den „privilegierten Familien“ zugerechneten Familien. Denn für die Nazis galten die männlichen Familienmitglieder aus „teiljüdischen“ Familien für einen Fortbestand des „Jüdischen“ als expansiver. Dagegen kamen die nicht geschiedenen Ehefrauen und „weiblichen Nachkommen“ aus diesen Familien eher davon, solange sie nicht auffielen und/ oder sich „deutschblütig“ verhielten. Da dies mitunter eine BDM-Karriere mit transgenerationell folgenreichen Introjektlasten und entsprechender Angst- und Idealisierungsladung implizieren konnte, vermuteten deren Nachkommen meist eine Täter- und/ oder Täterinnen-Verstrickung in ihren Familien - keineswegs jedoch jüdische Wurzeln.

Dies stellte sich dann auch eher für ihre Psychotherapeut*innen so dar – und damit auch für deren Zuordnen der Folgen und deren transgenerationelles Weiterwirken im Rahmen der Forschung. Denn diese jüdischen Wurzeln waren oftmals bereits durch die Assimilierungsgeschichte der Eltern und (Ur-)Großeltern ihrer Klient*innen längst unsichtbar geworden. Dafür hatten bereits die Reformen Josefs II. und des Preußenkönigs und die mit ihnen nachvollzogenen Namensänderungen sowie ein hier erworbener christlicher Glaubens- oder Ehestatus beim betreffenden (Ur-/ Groß-)Elternteil gesorgt (siehe vorne).

Bis die besondere Phänomenologie der Folgen und Weiterwirkdynamiken in Familien, in denen beide Seiten lebten, stärker wahrgenommen werden konnte, dauerte ziemlich lange (siehe mehr unter I. A.3. im Curriculum). Hierzu wurden dann auch die Folgen der (teil-)jüdischen Zuschreibungen für die unmittelbar davon Betroffenen und deren Nachkommen berücksichtigt.

Da für diesen Kontext auch ein besonderer Flucht- bzw. Migrationshintergrund auffällt, ist für die „Wurzelsuche“ und Rekonstruktionsarbeit am fragmentierten Familiengedächtnis für die Nachkommen selbst aber auch für die Forschung an den transgenerationellen Weiterwirkfolgen in Familien mit nur einem jüdischen Elternteil eine Berücksichtigung der länderspezifischen NS-Invasions-Zeitpunkte notwendig.

Dementsprechend muss hier dann auch gefragt werden, ab welchem Zeitpunkt die NS-Gesetze in diesen Ländern ebenfalls gültig wurden, in welchem Ausmaß sie hier durchgesetzt wurden und welche anderen Vernichtungsstrategien hier der Krieg möglich werden ließ.

 

Zu diesem Gesamtphänomen arbeitet eine Forschungsgruppe im GT-D-A-CH-Kontext, die in diesem Curriculum auch ihre Ergebnisse zur Verfügung stellen wird und zu der über die gleichnamige Rubrik (Hauptmenü-Leiste oben) auch Verbindung aufgenommen werden kann.

In ihrem Kontext wurde auch dieser Beitrag verfasst.

In dieser Gruppe wurde bislang deutlich:

  • wer aus einer solchen Familie kommt und weder die gesetzliche Unrechts-Entwicklung im Rahmen der NS-Diktatur mit den Daten ihrer zeitlich-räumlichen Invasions-Ausdehnung noch das Wannsee-Protokoll (siehe a.a.O.) kennt und

  • wer angesichts dessen weder über die Geschichte der staatlichen Assimilationsangebote in den beiden letzten Jahrhunderten etwas weiß, noch über die Bedingungen, an die diese geknüpft waren oder wie leicht diese Privilegien wieder hinfällig werden konnten,

der wird kaum eine Chance haben, aus dem schlau zu werden, was anhand von Nachlässen aus dem Familienhintergrund wenigstens in einigen Fragmenten endlich zu Tage trat/ tritt.

Ohne diesen Fakten- und Gesellschaftshintergrund (siehe hierzu den Übersichts-Beitrag) kann nicht nachvollzogen oder eingeordnet werden, welche realen Identitätsbrüche und Gefahrenlagen das Familienleben bzw. das Leben der (Groß-)Elternteile während der NS-Zeit beherrschten und welche Gesellschaftsfakten ev. hinter den Familiendaten (Migration, Scheidung, Verschwinden oder Tod etc.) liegen.

Damit kann dann z.B. auch nicht ausreichend tiefgreifend darüber nachgedacht werden,

  • warum sich z.B. die männlichen Verwandten auf der (Groß-)Mutterseite in jungen Jahren „freiwillig sterilisieren“ ließen und es auf dieser Linie keine Verwandten gab/ gibt oder nur sehr entfernte

  • warum in der Familie so viel Anpassungsdruck herrschte und schwer nachvollziehbare Ängste und tiefgreifende Ambivalenzen

  • warum so viele generalisierende und pauschalierende (Auf-/ Ab-)Wertungen die Be­ziehungen zueinander immer wieder erschwer(t)en

  • warum es bei den (Groß-)Eltern so viele Spaltungsphänomene mit entsprechenden „Kontakt aushebelnden Kippschaltern“ entlang nicht nachvollziehbaren Gefahrenlinien gab

  • warum ganze Teile der Familie gar nicht präsent waren, deren Noch-Existieren gar verleugnet wurde und

  • warum es in Freundschaften, Geschwisterbeziehungen etc. so oft zu Beziehungsab­brüchen kam oder zu innerfamiliären „Kriegslinien“ mit unversöhnlichen „Graben­kämpfen“ und/ oder „geschiedenen Welten“ hinter diesen Linien etc.

Weiter wurde deutlich, wie schwierig sich die Erforschung des hier besonders verdeckt gehaltenen bzw. verschwiegenen Familienhintergrunds in diesen Familien gestaltet, was dem Nachforschen mitunter „archäologische Züge“ verleiht. Dieses „Gut-Vergraben-Sein“ von dem, was für die Familie wirklich Fakt wurde, macht auch das Begreifen und Zuordnen der Folgen davon sehr schwierig und erst recht ein Erkennen der darin begründet liegenden transgenerationellen Weiterwirkphänomene. Sich hierzu zusammen zu tun, ist sehr hilfreich. Denn der bis heute anhaltende Assimilierungs- und Verheimlichungsdruck (auch den eigenen Nachkommen gegenüber) wirkt sich auf das „zur Sprache bringen“ des bislang verdeckten Familienhintergrunds enorm blockierend aus.

Auch kann es sehr hilfreich sein, über die Literatur erstmals Zusammenhänge zum eigenen Familienhintergrund entdecken und nach eigener Familienfaktenrecherche noch viel deutlicher differenzieren oder bestimmte Dinge auch ausschließen zu können. Hierfür ist auch das Wenige an Forschungsliteratur über Familien mit nur einem jüdischen (Groß-)Elternteil ungemein hilfreich. Damit ist es auch für die Forschungsgruppe wichtig, dieses Wenige, das bisher verallgemeinerbar erforscht wurde, zusammenzutragen und in diesem Curriculum zur Übersicht zu bringen.

Neben dieser Erkenntnisebene, ist es aber auch genauso wichtig, mit zu bedenken, dass sich in den Familien mit nur einem jüdischen (Groß-)Elternteil die Folgen auf Täter-/ Mitläufer und Überlebenden-/ Zuschreibungs-Opferseite vielschichtig überlagern können. Deshalb ist / bleibt es stets wichtig, für jedes Familienmitglied eigens nachzuvollziehen, welcher Faktenhintergrund für dieses ausschlaggebend, d.h. existenziell wirkungsmächtig, identitäts- und entwicklungsbestimmend wurde.

Neben diesem bzw. im Prozess dieses sich umfassenden Sich-Kundig-Machens soll mit der Zeit eine differenziertere gestalttherapeutische Forschung in diesem von allen Psychothera­pieschulen bislang vernachlässigten Bereich möglich werden.

Hier haben wir die Hoffnung, dass sich die Ergebnisse mit der Zeit in die GT-Entwicklung, ihre Lehre (Aus- und Fortbildung) und ihre konzeptionelle Psychotherapiepraxis integrieren lässt.