A 2.2 Die Abwehr – die Angst vor dem, was den Vorfahren angetan wurde oder was sie gemacht haben
Bei der Angst vor dem, was den Vorfahren angetan wurde oder was sie gemacht haben,hat die individuelle Abwehr einen starken gesellschaftlichen Hintergrund. Denn wenn eine Gesellschaft in hoch bedeutsamen Bereichen ihre Wahrnehmung einschränkt, entsteht eine Vertuschungskultur mit vielfältigen Folgen. Dies gilt allgemein für Diktaturen und Autokratien, insbesondere für das NS-Reich. Dessen Verbrechen sind einerseits nur schwer in Worte zu fassen, andererseits aber ist gerade darum das Ringen um ihre möglichst genaue Wahrnehmung auch Jahrzehnte später von allergrößter Bedeutung – und eben auch ein Verständnis für mögliches Weiterwirken.
Psychologie der Täterschaft und ihre transgenerationelle Übertragung.
Auch über 80 Jahre nach dem Ende des Holocaust beschäftigt Fachleute - Historiker, Psychologen und andere - die Frage wie "normale" Menschen zu Massenmördern und Unterstützern der Verbrechen mutieren konnten. Geht man davon aus, dass normal menschlich denkende und fühlende Menschen psychologisch (und neurobiologisch) nicht in der Lage sind, grundlos Grausamkeiten gegen ihre Mitmenschen zu verüben, so muss man einen seelischen Transformationsprozess annehmen, in dessen Verlauf die psychologischen (und neurobiologischen) Strukturen zur Menschlichkeit deformiert werden. Peter Pogany-Wnendt legt ein Konzept vor, das auf psychoanalytischer Basis versucht diesen Prozess der Selbstentmenschlichung, wie er ihn nennt, zu beschreiben. Die Kenntnis der Dynamik der Täterschaft ist für die Psychotherapie bedeutsam, insofern als sie hilft die Gefühlserbschaften der Schuld, die die Täter und ihre Helfer ihren Nachkommen hinterlassen haben, besser zu verstehen und zu behandeln.
Warum wir bei der Phänomenologie der NS-Diktatur-Folgen „strukturelle Kontinuitäten“ und für Deutschland und Österreich eine Mit-Täterschaft im Mehrgenerationenfeld annehmen müssen.
Karin Daecke (2025) macht die Erkenntnis, dass die NS-Diktatur einen Werte- und Zivilisationsbruch (Dan Diner 1988, Habermas 1986/ 1987) von nie gekanntem Ausmaß organisiert und durchgesetzt hat, zum Ausgangspunkt ihres Beitrags und verweist auf die Existenz der hierfür geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen und auf deren psychosoziale Wirkung. Demzufolge konnten nicht nur die später als Täter fokussierten Akteure der NS-Vernichtungspolitik hiervon geprägt worden sein, sondern auch all jene, die strukturell - beruflich und privat - darin miteingebunden waren und lange Zeit lediglich als „Mitläufer“ galten. In dem Maße, wie sich der Zivilisations- und Wertebruch in all diese Menschen psychisch/ psychosozial einschreiben konnte, mussten strukturelle Kontinuitäten von psychohistorischem Ausmaß entstanden sein. Dass sich deren Folgen über Generationen hinweg bis heute auswirken und diese dabei selten als solche erkannt werden, fordert uns TherapeutInnen gerade angesichts des Erstarkens rechter Gewalt dazu auf, umfassender hinzusehen und punktuell psycho-edukativ relevantes Hintergrundwissen zu vermitteln.
Loyalitäten
Jürgen Müller-Hohagen thematisiert die große Bedeutung von Loyalitätsbindungen im menschlichen Leben. Spezifische Verzerrungen ergeben sich durch ungeklärte Hintergründe aus der NS-Zeit. Diese können sehr unterschiedlich sein, je nachdem ob es sich um Familien von Verfolgten oder von Tätern bzw. Tatbeteiligten („Mitläufer“) handelt. Solche Loyalitätsbindungen können mit dafür sorgen, dass jene Hintergründe lange unsichtbar bleiben, gerade darum aber eventuell immer noch von großer Wirkung sind.
Umgehen mit NS-Täterbezügen
Jürgen Müller-Hohagen erörtert, wie wir als PsychotherapeutInnen mit den Themen der NS-Täterschaft in den Familien umgehen können. Die kollektive Abwehr, sich damit näher zu befassen, bildet dabei den Hintergrund. So wurde in der Rechtsprechung Täterschaft jahrzehntelang sehr eng definiert. In der Regel musste der oder die Angeklagte persönlich gemordet haben, um als NS-Täter verurteilt zu werden. Dieses Fehlverständnis schützte auf der individuellen Ebene die Abwehr, eine Täterschaft im familiären Bindungsfeld konkret in Erwägung zu ziehen. In Wirklichkeit haben Nachkommen aber viel davon gespürt, konnten es jedoch nicht artikulieren. Ebenso problematisch sind bis heute anzutreffende Versuche im psychologischen Bereich, von einem „Täter-Trauma“ zu sprechen. Ähnlich steht es mit der oft fehlenden Differenzierung der transgenerationalen NS-Folgen bei Nachfahren von Verfolgten und zum anderen bei denen von TäterInnen.
Ambivalente Identität: Die Lebensrealität von Menschen mit teiljüdischem Erbe
Nina Diesenberger beschreibt im ersten faktischen Teil die durch die NS-Blutschutzgesetze und die auf der Wannsee-Konferenz beschlossenen Regelungen für Familien mit jüdischen und nicht-jüdischen Mitgliedern entstandenen Forderungen, Gefahren, Einschränkungen sowie Existenz- und Identitätsbrüche und Ambivalenzen. Dadurch werden die durch die NS-Zuschreibungen „arisch“ und „jüdisch“ und deren existenzielle Folgen in den Familien geschaffenen Spaltungen und Abgründe deutlich. Im zweiten Teil beleuchtet sie die psychischen Dynamiken, die für die Nachgeborenen aus ihren Beziehungen zu Angehörigen auf Täter- und Opferseite entstehen können. Diese Dynamiken führen zu einer so starken inneren Zerrissenheit zwischen den beiden oszillierenden Polen, dass sie die Auseinandersetzung mit der familiären NS-Vergangenheit erschweren; dies wird anhand eines persönlichen Beispiels veranschaulicht.
Umgang mit Transgenerationalität in der Psychotherapie.
Das transgenerationelle Erbe von NS-Diktatur, Krieg und Holocaust hat sich noch nicht als fester Bestandteil in der psychotherapeutischen Praxis und Psychotherapieausbildung durchsetzen können. Dabei sind Kenntnisse über diese Gefühlserbschaften und die Prozesse ihrer transgenerationellen Weitergabe von entscheidender Bedeutung zum Verständnis etlicher Symptome unserer Patienten.
In diesem Kapitel geht Peter Pogany-Wnendt auf die Bedeutung und auf den psychotherapeutischen Umgang mit all dem ein. Anhand einiger Beispiele zeigt er, wie sie zur Symptombildung und zu Verhaltensauffälligkeiten führen können. Er beschreibt Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse, sowie unbewusste Verstrickungen, die entstehen können, wenn TherapeutIn und PatientIn als Nachkommen von Opfern und Tätern aufeinandertreffen. Denn die Familiengeschichten der Patienten mobilisieren die Gefühlserbschaften des Therapeuten. Dies kann zu Abwehrreaktionen beim Therapeuten und zu(m) destruktiven Agieren seinerseits führen, wenn diese unreflektiert bleiben. Konstruktive therapeutische Umgangsformen werden aufgezeigt.