B.3.2.7 Die sozialisationshistorische Strukturperspektive
Für den strukturell-phänomenologischen Tradierungs- und Hintergrundbezug auf die primär- und sekundär-sozialisatorische NS-Erziehung wurden Schriften von Klönne 1995, Guse 2001, Knopp 2000, Chamberlain 1998, Walb 1998, Filmaufnahmen zum Thema gesichtet und ein Quellentext von Haarer ("Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", 1939) einbezogen.
Aus Klönnes Studie "Jugend im Dritten Reich" wurden 16 staatlich organisationsgebundene Strukturen der (Um-)Erziehung der Jugend durch die NS-Psychagogik und die damit verbundenen Prinzipien herausgearbeitet:
- das Prinzip der redefinitorischen Vereinnahmung gängiger, psychagogischer Identifikationsansätze und deren Umbau für eine ganzheitliche und lebensumfassende Ergreifung und ideologische Gleichschaltung junger Menschen, unter Nutzung ekstatisch hedonistischer und rigide leistungsbezogener Vereinnahmungsmethoden,
- das Prinzip der Führerschafts-Gefolgschaftserziehung unter Nutzung des narzisstischen Abwehr- und kindlichen Geltungsstrebens und damit das Prinzip, vorhandene Sehnsüchte, z. B. die Sehnsucht, ausreichend viele Kontakte, einen guten Platz im Freundeskreis und einen expandierenden Aktionsradius im selbstwertaufwertenden Gemeinschaftsbezug zu haben, zu missbrauchen,
- das Prinzip der identifikatorisch zielgruppenorientierten und hierbei der geschlechtsspezifischen Ergreifung und Neuausrichtung im evolutionär-ideologischen Idealbezug,
- das Prinzip der Ausrichtung auf einen evolutionär-höherwertigen bzw. elitären Leib- und Heilbezug,
- das Prinzip der Dominanz des Willens über Fühlen und Denken ("absoluter Wille"),
- das Herrschaftsprinzip und seine Ausrichtung auf ein Omnipotenz-, Sieges- und Stärkeideal,
- das Prinzip des unmittelbaren Weisungsvollzugs bzw. des sofortigen Nachvollzugs der "von oben" kommenden Diktion,
- das Prinzip der "totalen Identifikation" mit den "von oben" vorgegebenen Idealschablonen,
- das Prinzip der Identifikation mit einer vorgegebenen Führergestalt bzw. der Konfluenz mit dieser im geforderten Opferbereitschafts- bzw. Hingabeideal,
- das Prinzip des evolutionären Aktivismus (totale Einbindung durch "ein nicht mehr zu sich kommen lassen" (Totpunkt), Ideal der "unbegrenzten Leistungsbereitschaft" und der "totalen Hingabe" an eine "höhere Bindung"),
- das Prinzip der evolutionär-elitären und umerziehungsorientierten Kontrolle und Selektion (nach Innen und Außen),
- das Prinzip der Täuschung bzw. Blendung im evolutionär-typologischen Wendemodus ("Tai-Chi-Modus": Band 3, S. 710, 741; "Als-ob-Struktur": Band 3, S. 42, 73 f, 84 f, 108, 224, 233, 235, 237 f, 285 f, 407, 628, 648 f, 633, 635, 736),
- das Prinzip der Selbstveredelung im Evolutions-/ Idealbezug und dessen Verankerung im Normalitätsbezug,
- das "Paradigmenwechselprinzip" bzw. das Prinzip der evolutionär-operationalen Umwertung und Neuausrichtung des Werte-, Zivilisationsentwicklungs- und Geschichtsbezugs auf allen Ebenen (Band 3, S. 710, 738 f, 748),
- das regressive Gefolgschafts- bzw. Unterwerfungsprinzip,
- das Prinzip des "Positiv-Denkens" bzw. der "Positivausrichtung" im evolutionär-programmatischen Ideologie- und zivilisatorischen Paradigmenwechselbezug (Prinzip des strukturellen Verkennen und Blendens).
Die sozialisationshistorische Strukturperspektive bezieht auch Haarers rigide und nationalsozialistisch verklärte Säuglingsdressur (1939) ein. Diese zielte auf eine bemächtigungsorientierte Reduzierung der Mutter-Kind-Beziehung auf einen instrumentellen Kontakt von der ersten Stunde an. Hierzu wurden akribische Pflegehandlungs- und Verhaltensanweisungen mit impulsdrosselnden Grenzsetzungen vorgegeben und die ganze Familie darauf eingeschworen, sich nie ohne Anlass mit dem Kind abzugeben (Funktionalitätsprinzip).
Daraus resultiert eine Anästhesierung der Gefühls-, Bedürfniswahrnehmung und -äußerung, welche die Ausbildung von Ichfunktionen und Kontaktgrenzen und eine selbst- und mitverantwortliche Orientierung daran massiv behindert (Perls 1989). Hierzu muss bedacht werden, dass nach Haarers Vorgaben auch noch die psychischen und geistigen Förderungshinweise ausgesprochen spärlich und rigide fordernd und angstgesteuert bleiben. Dies ist jedoch der Nährboden für das Entstehen von Konfluenz und Projektion, projektiver Identifikation oder Orientierungssuche am Anderen sowie für eine obsessive und zwanghafte Verarbeitungstendenz (ders. und Mentzos 1993) auf der Grundlage einer früh entstandenen Entwicklungs- und Bindungsstörung. Eckstaedt (1992) machte hier auch noch auf die Bedeutung nicht gelingender, erster Verselbstständigungsmöglichkeiten (Wegkrabbeln von der Mutter, eigene Eroberung der Objektwelt und des Raumes etc.) aufmerksam und Schenk-Danzinger (1993) auf deren Folgen für die Entwicklung von Sprach- und sozialen Verhaltenskompetenzen.
Haarers Erziehungsratgeber verdeutlicht, dass von strukturell ideologiebedingten Entwicklungsdefiziten ausgegangen muss, wie bzw. in welchem Ausmaß diese durch Pflege- und Erziehungsanleitungen evoziert wurden und wie früh die Beziehung zum Kind (von Geburt an) von den rigiden Erziehungs- und Leistungsvorstellungen im nationalsozialistischen Idealbezug bestimmt sein konnten, wenn sich die jungen Mütter tatsächlich von ideologischen Vorgaben beeinflussen ließen (Chamberlain 1998).
Die Studie verweist auch auf moderne Varianten einer Erziehung von erster Stunde an, die ebenfalls evolutionär-zivilisatorische Paradigmenwechsel- und Elitenzugehörigkeitansprüche sichern sollen (z. B. Band 2, S. 378 f).
Die sozialisationshistorischen Strukturperspektiven beachten im Kontext der Polarität "Binden - Lösen" auch den autoritären und die Orientierung des Kindes stark an die Eltern bindenden Erziehungsstil der 50er /60er Jahre (Stunde Null, postfaschistische Phase) und den im Protestbezug auf diesen entstandenen, antiautoritären oder "Laissez-Faire"-Erziehungsstil, der mitunter gegenkulturell geprägt war, sich jedoch durchgehend an der Ablösung von den Eltern und an der Entwicklung der eigenen Individualität, Kreativität orientierte (70er /80er Jahre).
Die gesellschaftssystemischen Strukturperspektiven verweisen auf die Entwicklung zur Wohlstandsgesellschaft als Hintergrund für diese Trends, mit der neue Varianten der frühen Entwicklungs- und Bindungsstörung entstanden, die ihre Ursache auch in neuen Formen der Vernachlässigung und Überforderung hatten (S. 430). Die schichtbedingte Verschärfung dieser Entwicklung bezieht dann für die nachfolgenden Jahrzehnte auch die stete Zunahme der Arbeitslosigkeit und das zunehmende sich Öffnen der Schere zwischen Menschen mit ein, die ohne Arbeit und entsprechende Anerkennung leben müssen, während andere zuviel Arbeit leisten und immer mehr Flexibilitätsforderungen erfüllen müssen.